Und im Hintergrund lauscht Lenin
Neues Deutschland, 21/22.September 2013 von Lucía Tirado:
»Klangexpedition Ural« – ein Reiseprojekt des »Musiktheaters Bruit!« im Ballhaus Ost
Morgens in aller Frühe standen in DDR-Jahren Leute am Reisebüro an, um eine Tour ins ferne Russland zu ergattern. Das hatte was von Luxus. Wenn er so weitermache, könne er bald ganz umsonst mit der transsibirischen Eisenbahn fahren, scherzte man mit jemandem, der sich darauf verstand, ohne Unterlass politische Witze mit Pfiff zu erzählen.
Mit dem Lachen über die Politik hat es sich erledigt. Das Reiseziel indes behielt seinen Reiz. Eine Künstlergruppe aus dem Ballhaus Ost konnte sich dem hingeben. Die selbst erwählte Mission wurde ermöglicht durch den Hauptstadtkulturfonds und unterstützt durch das Goethe-Institut in Moskau, das Auswärtige Amt und die Robert Bosch Stiftung.
Wie vertraut klingt das Fremde, wie fremd das Vertraute? Dem nachzuspüren, brach die Gruppe mit Aufnahmegerät und Kamera auf. Es war abzusehen, dass sie der russischen Seele begegnen würde. Wie eindringlich sie die Künstler berühren würde, blieb abzuwarten.
Die Rückkehrer der »Klangexpedition Ural« breiten nun ihre Schätze als »Musiktheater Bruit!« in der heimischen Stätte in der Pappelallee aus. Einen wunderbaren Namen haben sie sich gegeben. Alles drin in »Bruit!« – Gerücht, Geräusch, Hall und Knall … Kalt war es auf der Reise. Vergnügt tragen sie nun ihre Schapkas und dicke Jacken, während ratterndes Schienengeräusch den Raum erfüllt und Filmaufnahmen aus dem Zugfenster auf einem Monitor flackern. Steppe ringsumher, Wälder, einzelne Gehöfte, Weite.
Die Inszenierung spiegelt ohne große verbale Erklärungen wider, wie offen und freundlich die Künstler aufgenommen wurden. Sie stießen auf eine zu Herzen gehende Art der »Pflege deutschen Kulturguts«, lassen für uns eine alte Frau über ihre Familie sprechen, vermitteln Erlebtes über Film, Fotos und Musik mit Cello, Akkordeon, Keyboard, Gesang …
Die Reise hat sich gelohnt, zeigt sich in Bildern schwarz auf weiß. Manchmal entstehen sie auch im Kopf durch Geräusche, die nur dort in der Ferne so klingen können, wie sie klingen. Ländlich ist die Atmosphäre. Schnörkellos.
Ein beispielsweise den Ort des Geschehens ahnen lassendes, von Männern erzeugtes Originalgeräusch bestätigt sich: Sauna. In Handtücher gewickelt lässt »Bruit!« daraufhin selbst russischen Gesang hören. Diese Szene spielt wie anderes ins Komische hinein. Aber sie wird auch spürbar in der Inszenierung: die der russischen Seele innewohnende Melancholie, die der Depression so gefährlich nahe kommen kann. »Bruit!« hat sie getroffen.
Heimatkunde musste das Künstlerkollektiv nicht suchen. Die wurde ihm selbstverständlich geboten. Wissenswertes über Land und Leute in bescheidener Reiseführermanier. Doch alles übertreffend sind die Utensilien, die man ihnen stolz offerierte und mit denen sie nun den Spielort im Ballhaus Ost schmücken. Freigiebig breitete man alles aus. Na, Sowjetisches eben. Neues ist bisher dort nicht angekommen. Wenn kümmert das schon? Man hat mit seinem Leben zu tun. Moskau ist weit.
Diesem Umstand mit tragischkomischem Hintergrund weiß die Künstlergruppe feinfühlig zu begegnen. Die so erreichte sympathische Art zeichnet die ein Dauerlächeln erzeugende Inszenierung aus.
Eine kleine Bühne russisch geschmückter Art ist aufgebaut, die einzelnen Szenen Kulisse gibt. Die früher sicher immer vordergründig präsentierte Lenin-Büste ist am nachempfundenen Kulturort hinter den Vorhang gerückt. Nicht ganz weg. Man konnte sich nicht trennen. Der Vertraute bleibt im Hintergrund.
Auf der kleinen Bühne endet schließlich die »Klangexpedition Ural« mit dem Gesang eines alten russischen Schlagers von Lev Leschenko. »Proschaj« – »Verzeih!«